Gary Numan: eine berührende Autobiografie (2024)

Mit Synthi-Pop-Hits nahm er die achtziger Jahre musikalisch vorweg. Seinen Erfolg lernte Gary Numan aber erst später zu geniessen. Seine berührende Autobiografie beschreibt den Weg vom Elend zum Happy End.

Hanspeter Künzler

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Pop-Stars sind oft eigenartige Menschen, die zu extremen Handlungen neigen. Gewöhnlich ist das Musikgeschäft nur allzu gern bereit, hedonistische Exzesse und spleenige Macken zu verzeihen, sofern dabei knackige Schlagzeilen und ein paar Hits herausschauen.

Gary Numan war eigentlich ein solcher Star. Ihm aber wurde keine Marotte je verziehen. Auf dem Höhepunkt seines Erfolges – in den Jahren 1979 und 1980 veröffentlichte er drei Alben, die sogleich an der Spitze der britischen Charts landeten – wurde er von den Musikmedien mit Hohn überschüttet. Seine Platten erschienen beim unabhängigen Kleinlabel Beggars Banquet, was ihm angesichts des post-punkigen Zeitgeists eigentlich Respekt hätte eintragen müssen. In seinem Fall machte man eine Ausnahme. Die Verrisse waren grauenhaft, die Attacken häufig ein Schlag unter die Gürtellinie.

Ein verkanntes Idol

Es dauerte mehr als eine Dekade, bis sich der Wind drehte. Dabei wäre sein Einfluss auf Bands wie Yazoo, Orchestral Manoeuvres in the Dark oder Depeche Mode leicht zu orten gewesen. Später, als seine Musik weit düsterer und rockiger geworden war und sich die Gemeinde seiner Fans zu einem verschworenen Kult formiert hatte, outeten sich aber plötzlich zahlreiche Kollegen wie Marilyn Manson, Kurt Cobain, Trent Reznor (Nine Inch Nails) und sogar der Hip-Hop-Pionier Afrika Bambaataa als Fans.

Um die Jahrtausendwende kam dann eine Generation auf den Numan-Geschmack, die noch in den Windeln gesteckt hatte, als der Musiker am Fernsehen zum ersten Mal bleich und blechern den Roboter spielte. Die Sugababes, Republica, Basem*nt Jaxx und etliche mehr stürmten mit Songs, die Numan-Samples enthielten, die Hitparaden. Als im Jahr 2009 die an Coolness kaum zu übertreffenden Jack White und Alison Mosshart mit ihrer neuen Band Dead Weather eine Version von «Are Friends Electric?» einspielten, war Numans Rehabilitation endgültig vollzogen. 2017 verlieh ihm die britische Akademie der Songwriter, Komponisten und Autoren für seine «inspirationsmässigen Verdienste» einen Ivor-Novello-Award. Im gleichen Jahr landete sein 25.Album, «Savage (Songs from a Broken World)», in den britischen Charts auf Rang zwei – sein grösster Erfolg seit «Telekon» fast vierzig Jahre früher.

2020 begann gut für Gary Numan, der inzwischen in Kalifornien lebt. Mit dem Produzenten Mark Ronson arbeitete er an einem Album, und gerade hatte er an der New Yorker Cornell University eine Gastvorlesung zu Ehren des Synthesizer-Erfinders Robert Moog gehalten. Dann kam Covid-19. Die aufgezwungene Freizeit verwendete Numan dafür, seine Memoiren neu zu schreiben (vor Jahren war bereits eine Version eines Ghostwriters erschienen).

Sieben Wochen habe er gebraucht für den immerhin 450 Seiten starken Band. Die Lektüre erweist sich als deutlich aufschlussreicher als gewöhnliche Werke dieser Art – auch für Leser und Leserinnen jenseits des harten Fan-Kreises. Ohne jedes Selbstmitleid versucht Numan – eigentlich Gary Webb – zu ergründen, was die eigentümliche Antipathie erklären könnte, die ihm in seinen erfolgreichsten Tagen überall entgegenbrandete. Er findet den Grund bei sich selbst. «Scham- und Schuldgefühle berühren mich nicht», schreibt Numan. «Auch brauche ich nicht das Gefühl, irgendeiner Gruppe anzugehören. Wenn es hiess, du kannst bei uns nur mitmachen, wenn du rauchst, bin ich gegangen und habe mir keine weiteren Gedanken gemacht.»

Sein Verhalten war selbst für einen aufmüpfigen, punkigen Londoner Teenager auffällig. Überall eckte er an, seine trotzige Art irritierte. Ärztliche Tests deuteten allerdings schon früh darauf hin, dass er am Asperger-Syndrom leiden könnte. Aus Furcht vor einer Stigmatisierung wollten die Eltern die Diagnose nicht gelten lassen. Bei Asperger handelt es sich um eine erst in neuerer Zeit eingehender erforschte Variante des Autismus. Sie beeinträchtigt vor allem auch Mimik, Gestik und den Tonfall der Kommunikation.

Die Interpretation von Gesichtsausdrücken sei für ihn genauso schwierig gewesen wie das Verständnis von Ironie und Witz. Dabei habe er es nur selten gemerkt, wenn er eine Situation falsch einschätzte. Das war ein grosses Handicap in der britischen Musikszene, wo schlagfertige Ironie und Oscar-Wilde-Zitate zum guten Ton gehören.

Die Krankheit hat Vorteile

Die Asperger-Diagnose – sie wurde später bestätigt – wirft auch ein Licht auf Numans Vorliebe für Roboter, Computer, Automaten ganz allgemein. Wenn er auf der Bühne einen Maschinenmenschen spielte und Texte über Roboterseelen sang, war das seine quasi instinktive Art, sich mit der Welt zu arrangieren. Der Musiker, der später das Flugbrevet erwarb und eine Fluggesellschaft gründete, war zunächst von einem kommunikativen Desaster zum andern getaumelt – bis er 1992 die Liebe seines Lebens fand, eine Frau, die er Jahre vorher als Fan kennengelernt hatte. Als Schwester eines Asperger-Patienten verstand sie es, Numans Reaktionen richtig einzuordnen.

Inzwischen sieht Numan im Asperger-Syndrom auch Vorteile: «Es gibt dir einen Fokus», sagt er. «Es gibt dir die Fähigkeit, schlechte Kritiken aus dem Weg zu schieben und weiterzumachen, als ob nichts gewesen wäre.»

Gary Numan: (R)evolution – Gary Numan, the Autobiography. Constable, London 2020. 456 Seiten, Fr. 41.90.

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